Dass durch einen hohen Verzehr von Fleisch mögliche negative gesundheitliche Effekte möglich sind, ist schon lange bekannt. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt seit vielen Jahren, wöchentlich nicht mehr als 300 bis 600 g Fleisch und Fleischwaren zu verzehren, im Mittel also nicht mehr als 70 g pro Tag. In Deutschland essen jedoch Männer durchschnittliche 156 g Fleisch pro Tag und Frauen 84 g.
Ein Verzicht auf Fleisch und Wurstwaren sei jedoch nicht erforderlich, so Deutschlands oberster Ernährungsforscher Gerhard Rechkemmer, Präsident des Max-Rubner-Instituts, Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe Grundsätzlich empfiehlt er eine gesunde, also vielfältig zusammengesetzte Ernährung: mehr Gemüse, Obst und Vollkornprodukte als derzeit üblich und dafür Fleisch und Wurst in kleineren Mengen. Auch weniger alkoholische Getränke, denn diese stünden in Deutschland für rund acht Prozent der Energiezufuhr – und das sei zu viel.
In einer Pressemeldung der Verbraucherzentrale wird auf die Unterscheidung zwischen verarbeitetem und unverarbeitetem Fleisch hingewiesen, wie sie jetzt von der Internationalen Krebsforschungsagentur (IARC, den Krebsforschern der WHO) getroffen wird. Als verarbeitetes Fleisch ist jenes zu bezeichnen, das beispielsweise durch Salzen, Fermentieren, Räuchern oder Pökeln haltbar gemacht wird, wie Schinken oder Würstchen. Bei derartigen Produkten sind sich die Forscher über deren mögliche krebsauslösende Wirkung sicher und ordnen sie deshalb in der Kategorie I „krebserregend“ ein. Diese Klassifizierung als krebserregende Substanzen meint jedoch ausschließlich das Gefährdungspotenzial, nicht das Risiko. Wie stark das Risiko ist, um an Krebs zu erkranken, beschreibt diese Einstufung nicht. So ist beispielsweise zwar das Rauchen in dieselbe Gruppe eingestuft, jedoch ist das Risiko, an den Folgen von Krebs durch Tabakrauchen zu sterben (weltweit jährlich 1 Mio. Menschen), deutlich höher als durch einen hohen Verzehr von verarbeitetem Fleisch (weltweit geschätzt 34.000 Fälle).
Krebserregende Substanzen
Stiftung Warentest: Zu den durch Fleisch-Verarbeitung entstehenden Stoffen zählen sogenannte Nitrosamine, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) und heterozyklische aromatische Amine (HAA). Wie viel davon tatsächlich gebildet würden, könne je nach Verarbeitungsmethode schwanken. Einige der deutschen Wurstwaren wie Weißwurst und Gelbwurst werden weder gepökelt, noch landen sie auf dem Bratrost. Zu derartigen Unterschieden gebe aber die neue IARC-Auswertung keinen Aufschluss.
Unverarbeitetes rotes Fleisch (Muskelfleisch von Rind, Kalb, Schwein, Schaf, Pferd oder Ziege) stufen die Forscher in Kategorie 2 „wahrscheinlich krebserregend“ ein. Letztlich entscheidend ist allerdings, wie viel Fleisch und Wurstwaren jemand verzehrt. Dazu twittert Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, dieses Bonmot: „Wenn man einen Sack Kartoffeln isst, dann ist man auch tot!“
Wurst – ein Stück nationale Identität
DIE WELT veröffentlicht diese Meinung von Thomas Vogelsang, Geschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Fleischwarenindustrie: Trotz der medienweit vielfach kommentierten Erklärung habe es keine generelle Flucht der deutschen Konsumenten von den Fleischtheken gegeben. Es habe praktisch keine wirtschaftlichen Auswirkungen und auch keine Dämpfung der Nachfrage gegeben. Dazu auch Heiner Boeing, Leiter der Abteilung Epidemiologie beim Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam: Der große Aufschrei der Konsumenten sei ausgeblieben, vor allem auch deshalb, weil unabhängige Experten unverzüglich auf die Bremse traten, denn die Ergebnisse seien weder neu, noch dramatisch.
Laut Spiegel online warf der Schutzverband Schwarzwälder Schinkenhersteller der WHO eine Verunsicherung der Verbraucher vor. Die Fleischverarbeitung in Deutschland verlaufe unter strengen Vorschriften und Kontrollen, so der Verbandvorsitzende Hans Schneckenburger. In der Rheinischen Post vertritt unter anderem Karin Emundts, Fleischerfachgeschäft in Leverkusen-Wiesdorf, die Meinung, dass sich die Studie auf übermäßigen Konsum beziehe und viele Lebensmittel in großen Mengen schädliche seien. Sie rät zum Maßhalten und bei dem, was man esse, auf Qualität zu achten.
Richtige Einordnung der Daten wichtig
Josef Joffe, Herausgeber der ZEIT, Spiegel, Hessischer Rundfunk und A. Vogel Blog Grüne Welt plädieren für die richtige Einordnung der verbreiteten Behauptung, dass, wer täglich 50 g rotes Fleisch oder Wurst verschlinge, sein Darmkrebsrisiko um 18 Prozent erhöhe: Laut Robert-Koch-Institut hat eine 45jährige Frau in Deutschland durchschnittlich ein Risiko von 0,3 Prozent, innerhalb der folgenden zehn Jahre an Darmkrebs zu erkranken. Bei einem 65-jährigen Mann beträgt es 2,4 Prozent. Das gilt für den Durchschnittsbürger dieses Alters. Wird beiden ein um 36 Prozent höheres Risiko zugesprochen, weil sie pro Tag 100 g mehr Wurstwaren essen als ihre Altersgenossen, dann hat die 45-Jährige ein Risiko von 0,4 Prozent, der 65-Jährige eines von 3,3 Prozent, in den kommenden zehn Jahren Darmkrebs zu entwickeln. Laut Robert-Koch-Institut erkranken übrigens in Deutschland jährlich ca. 63.000 Menschen an Darmkrebs, über die Hälfte von ihnen ist bei der Diagnose über 70 Jahre alt.
Einen völligen Verzicht auf Fleisch empfiehlt selbst die IARC nicht: „Fleisch zu essen, hat bekannte Vorteile für die Gesundheit.“ So liefere es Eiweiß für den Aufbau und Erhalt verschiedener Körpergewebe, B-Vitamine sowie Eisen. Letzteres sei wichtig für den Sauerstofftransport durch die roten Blutkörperchen. Auf die Frage, wie viel Fleisch denn in Ordnung gehe, verweist die Agentur auf nationale Empfehlungen.
Gerhard Rechkemmer war Interviewpartner der FAZ-Sonntagszeitung zum Thema WHO-Studie: „Fachleute wissen schon lange, dass es einen Zusammenhang zwischen Wurst- und Fleischverzehr und Krebsrisiko gibt. Aber derartige Vorabmeldungen wie diese der WHO, die wegen der fehlenden Dokumentation wissenschaftlich noch nicht verwertbar sind, gehören seit einigen Jahren anscheinend zu deren Strategie.“ Bei Wurst gehe es um die Stoffe, die sich bei der Verarbeitung bilden. Fleisch werde allerdings selten roh gegessen, sondern vor dem Verzehr ebenfalls verarbeitet, also gebraten, gekocht oder gegrillt. Deshalb sei die Einteilung etwas fragwürdig. Inzwischen regt sich an der Aussagekraft derartiger Studien generell Kritik. Das Essener Wirtschaftsforschungsinstitut RWI beispielsweise ernannte die IARC-Analyse wegen der zunächst mangelnden Einordnung gar zur „Unstatistik des Monats“.
Abschließend noch ein Blick auf die Einschätzung von Udo Pollmer, Lebensmittelchemiker, Sachbuchautor und bekannt für kritische und provokante Aussagen zu Ernährungsempfehlungen und Diäten. Für ihn ist die WHO-Studie schon allein deshalb fragwürdig, weil er unter anderem die Art von deren Datenerhebung für unredlich hält.