Hidden Hunger, also Mangel- und Fehlernährung trotz ausreichender Kalorienversorgung, gibt es auch in Deutschland. „Eine besondere Risikogruppe stellen in Deutschland alleinerziehende Mütter und ihre Kinder dar, die auf Hartz IV angewiesen sind. Hier gibt es Daten dafür, dass der Regelsatz für eine gesunde Ernährung von Kindern nicht ausreicht“, sagt Professor Dr. Hans Konrad Biesalski. Der Ernährungsmediziner lehrt und forscht an der Universität Hohenheim. Die Wochenzeitung Die Zeit zitierte ihn kürzlich in einem Dossier zum „verborgenen Hunger“ und relativierte das Problem. Dem widerspricht Biesalski mit Nachdruck.
Hidden Hunger – seit vielen Jahren ein international gebräuchlicher Begriff. Die World Health Organization (WHO) schätzt, dass 2 bis 3 Mrd. Menschen betroffen sind. Der Begriff umschreibt eine Ernährung mit zu wenig Vitaminen und Mineralen, auch wenn die Betroffenen ausreichend Kalorien zu sich nehmen. Die Folgen: Krankheiten und Fehlentwicklungen wie etwa Wachstumsverzögerungen bei Kindern. Die Ursache bleibt oftmals im Verborgenen, da sich der eigentliche Vitaminmangel erst sehr viel später zeigt.
Die Autoren des Dossiers in der aktuellen Print-Ausgabe der Wochenzeitung „Die Zeit“ (Nr. 18 vom 21. April 2016) bezweifeln das jedoch. Unter dem Titel „Vitamin G! Wie Gier“ beschäftigen sie sich mit der industriellen Produktion von künstlichen Vitaminen. Der Text impliziert, dass die Vitamin-Hersteller die Wissenschaft beeinflussen. Professor Dr. Hans Konrad Biesalski, Ernährungsmediziner an der Universität Hohenheim, äußert sich zu den Aussagen.
Studien zu Hidden Hunger liegen vor – in Deutschland noch Forschungsbedarf
Die Zeit schreibt: „Der verborgene Hunger ist bisher lediglich eine Theorie. Sie mag sich plausibel anhören, ist aber nicht belegt. Das hindert Biesalski nicht daran, seine These zu verbreiten.“
Dazu erklärt Biesalski: „Zunächst einmal ist der Hidden Hunger keine Theorie von mir, der Begriff wird seit vielen Jahren unter anderem von den Vereinten Nationen verwendet. Diese nehmen das Problem sehr ernst, da es eine der wesentlichen Ursachen für die hohe Kinder- und Müttersterblichkeit vor allem in Ländern mit geringem Einkommen ist.“
Zur Frage der fehlenden Studien stellt Biesalski fest: „In Deutschland ist das Problem tatsächlich bislang kaum untersucht, nur einzelne Studien weisen auf Anzeichen für Hidden Hunger zum Beispiel bei Kindern hin, vor allem durch Jod, Eisen und Vitamin D. Hier gibt es noch erheblichen Forschungsbedarf vor allem in Familien mit geringem Einkommen. Eine besondere Risikogruppe stellen in Deutschland alleinerziehende Mütter und ihre Kinder dar, die auf Hartz IV angewiesen sind. Hier gibt es Daten, dass der Regelsatz für eine gesunde Ernährung von Kindern nicht ausreicht.“
„Aber in anderen Industrieländern wie Großbritannien, den USA und Frankreich liegen umfassende Studien zu dem Thema vor“, fährt der Professor fort. „Daraus kann man auch Rückschlüsse auf Deutschland ziehen. Die wichtigste Ursache für Hidden Hunger ist demnach Armut. Eine parlamentarische Untersuchungsgruppe aus Großbritannien hat vor einer Woche einen Bericht vorgelegt (‚Britains not-so-hidden hunger‘), der die zunehmende Zahl unterernährter Kinder und Kinder mit Eisenmangel vor allem in armen Haushalten belegt.“
Ausgewogene Mischkost reicht für Nährstoffversorgung – mit Ausnahmen
Von Vitaminzusätzen in Lebensmitteln hält der Experte – entgegen des Tenors des Zeitungsartikels – wenig. „In Deutschland ist eine ausgewogene Mischkost für gesunde Menschen normalerweise ausreichend, um mit allen Nährstoffen versorgt zu sein. Extra-Vitamine in Bonbons, Getränken oder Quark sind schlicht überflüssig.“
Ein paar Ausnahmefälle gebe es allerdings. „In Europa haben wir ein recht hohes Risiko von Joddefiziten“, erklärt Biesalski. „Jodmangel bewirkt nicht nur die Kropfbildung, sondern stört in der Schwangerschaft auch die mentale Entwicklung eines Kindes. In Deutschland zum Beispiel ist Salz daher oft mit Jod angereichert. Und das macht hier bei uns tatsächlich Sinn.“
In den USA, Kanada und China, führt der Ernährungsmediziner aus, würde das Mehl mit Folsäure angereichert. Seitdem seien die Neuralrohrdefekte bei Neugeborenen in China um 80 Prozent zurückgegangen, in den USA konnten sie um 30 bis 40 Prozent reduziert werden. „In Deutschland gibt es lediglich die Empfehlung, dass junge Frauen bei Schwangerschaftswunsch Folsäure zu sich nehmen sollten. Eine solche Supplementierung nur bei Bedarf bevorzuge ich grundsätzlich.“ Ein Nachteil sei allerdings, dass nicht jede Frau die Empfehlungen kenne und beachte.
Risikogruppen benötigen zusätzliche Vitamingaben
Die in dem Artikel angesprochenen wenige(n) Fälle, in denen zusätzliche Vitamingaben richtig seien, bestätigen Biesalskis Ansicht, dass es Risikogruppen gibt – junge Frauen etwa, die schwanger werden könnten, oder Neugeborene. Allerdings seien diese Gruppen durchaus nicht „wenige Fälle“ – schließlich würden allein über 700.000 Kinder in Deutschland geboren.
Hinzu kämen die Senioren. „Bei ihnen ist das Vitamin D oft ein Problem, selbst wenn die älteren Menschen sich genug in der Sonne aufhalten. Denn im Alter funktioniert die Vitamin D-Synthese über die Haut kaum noch“, stellt er klar. „Die wichtigste Ursache für den verborgenen Hunger ist jedoch Armut, und dies gilt auch für Länder mit hohen Einkommen.“
Entwicklungsländer: Zugang zu gesunden Lebensmitteln statt Extra-Vitamine
Auch in den Entwicklungsländern lehnt Prof. Dr. Biesalski eine grundsätzliche Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitaminen ab. „Mit Vitamin A im Speiseöl etwa könnte man zwar Vitamin A-Mangel kompensieren, doch dadurch ergibt sich ein Problem: Der Mangel entsteht, weil die Menschen keinen Zugang zu Vitamin A-haltiger Nahrung wie zum Beispiel tierische Lebensmittel haben.“
„Diese enthält aber auch viel Eisen und Zink. In der Annahme, das Problem sei mit der Vitamin A-Gabe behoben, wird dann leicht ein Eisen- bzw. Zinkmangel übersehen“, warnt der Ernährungsmediziner. „Die Vitaminanreicherung bietet so eine trügerische Sicherheit. Ziel muss eine nachhaltige Lösung sein, die auf einem ausreichenden, vielfältigen Lebensmittelangebot für alle beruht.“
Fotos: appetito / Archiv