Unter- und Mangelernährung
ist ein Risiko- und Kostenfaktor, der alle klinischen Parameter signifikant
beeinflusst. Weltweit gibt es dafür jedoch weder eine einheitliche Definition
noch eine standardisierte Quantifizierung.
Kein Mensch lässt sich wegen der Essensqualität ins Krankenhaus einweisen. Wer aber entlassen wurde, wird als erstes gefragt: „Und…? Wie war das Essen?“ Das Interesse an der medizinischen Betreuung ist im Privatgespräch nachrangig. Bei dieser Wertung wird aber vergessen, dass viele, vor allem ältere Patienten bereits mangelernährt ins Krankenhaus kommen. Erstaunlich viele verlassen es auch unterernährt, das heißt mit Gewichtsreduktion. Beim Thema Essensqualität im Krankenhaus geht es also nicht um persönliche Geschmackspräferenzen, sondern um die energetische Zusammensetzung der Ernährung zur Unterstützung der Heilung.
Wie Professor Dr. Christian Löser, Chefarzt der Medizinischen Klinik des Roten Kreuz Krankenhauses in Kassel und Mitherausgeber der Fachzeitschrift „Aktuelle Ernährungsmedizin“ auf dem Europäischen Gesundheitskongress in München erläuterte, ist Unter- und Mangelernährung im Krankenhaus ein häufiges und zunehmendes Problem, das zwischen 28 und 30 Prozent aller Patienten in europäischen Krankenhäusern betrifft. „Früher diente die Ernährung der Grundversorgung, heute ist sie hocheffizienter integraler Bestandteil ärztlicher Prävention und Therapie und bietet erheblichen Spielraum zur Kostensenkung im Krankenhaus“, erklärt Löser.
Europaweit 120 Mrd. Euro Mehrkosten
Bei stationärer Aufnahme muss bei jedem Patienten der Ernährungszustand anhand einfacher etablierter Parameter erfasst werden. Patienten mit Unter- oder Mangelernährung müssen durch gezielte Ernährung auf der Basis des etablierten Stufentherapieschemas behandelt werden. Unter-/Mangelernährung ist ein unabhängiger Risiko- und Kostenfaktor, der alle relevanten klinischen Parameter wie Letalität, Morbidität, Verweildauer und Lebensqualität signifikant beeinflusst. Allein die unmittelbaren Kosten betragen in Deutschland jährlich ca. 9, in Europa 120 Milliarden Euro. Interventionsstudien und Metaanalysen belegen überzeugend den therapeutischen Nutzen sowie die Kosteneffizienz von unterstützender Trink-, Zusatz- oder Sondennahrung. Zur Umsetzung ist ein Ernährungsteam aus ernährungsbeauftragten Ärzten, ernährungsqualifiziertem Pflegepersonal, Diätassistenten und/oder Ökotrophologen unerlässlich.
Für die Begriffe „Unter- und Mangelernährung“ gibt es nach wie vor weltweit keine einheitliche Definition und darüber hinaus auch keine standardisierte Erfassung und Quantifizierung. Die aktuellen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) definieren „Unterernährung“ als Verringerung der Energiespeicher (primäre Zielgröße: reduzierte Fettmasse) sowie „Mangelernährung“ als entweder krankheitsassoziierten Gewichtsverlust, Eiweißmangel (reduzierte Muskelmasse) oder Defizit an spezifischen essenziellen Nährstoffen. Das frühzeitige Erfassen einer beginnenden Unter-/Mangelernährung sowie eine konsequente ernährungsmedizinische Basisbetreuung hat nach heutigem Wissenstand einen deutlichen Einfluss auf verschiedene klinisch relevante Parameter: die individuelle Letalität (Sterberate unter Erkrankten), die Morbidität (Krankheitshäufigkeit in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe), die Therapietoleranz sowie die Komplikationsrate. Sie beeinflusst also statistisch gesehen direkt die Prognose und die Lebensqualität des Patienten und führt in prospektiven klinischen Studien und Metaanalysen auch zu einer signifikanten Verkürzung der Krankenhausliegedauer und zu niedrigeren individuell entstehenden Kosten.
Während des Krankenhausaufenthalts ergeben sich weitere Probleme beim Ernährungsstatus der Patienten. Klinische Studien belegen, dass je nach Fachrichtung und untersuchtem Patientenkollektiv zwischen 30 bis über 80 Prozent der stationären Patienten während des Krankenhausaufenthalts an Gewicht verlieren. Das Auftreten von Unter-/Mangelernährung korreliert signifikant mit sozialen Faktoren (zum Beispiel Familien- und Versorgungsstatus, Bildungsstand), dem Alter des Patienten oder medizinischen Faktoren (maligne Grunderkrankungen, Polypharmazie).
Nach der individuellen Evaluation und Behandlung der zugrunde liegenden Ursachen beinhaltet die nächste Stufe des von Löser vorgestellten Therapieschemas eine individuelle Ernährungsanamnese mit Modifikation der jeweiligen Ernährung unter Verwendung einer gut verträglichen, energetisch hochwertigen Wunschkost. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer in der Praxis etablierter Allgemeinmaßnahmen, wie die Verwendung spezieller Geschmacksverstärker oder Anreicherung der Nahrung durch kostengünstige, geruchs- und geschmacksneutrale energiereiche Zusatzstoffe, wie zum Beispiel Maltodextrin oder spezifische Eiweißkonzentrate.
Die Mahlzeiten als Höhepunkt im Patientenalltag
Essen in angenehmer Umgebung und geselliger Gemeinschaft, spezielle Ernährungsschulung von betreuenden Angehörigen, Förderung körperlicher Aktivität zwischen den Mahlzeiten oder die Verordnung häufiger kleiner energiereicher Zwischenmahlzeiten (Finger-Food, Snacks, energiereiche Drinks) über den Tag verteilt ist Aufgabe der Krankenschwester. Für die meisten Patienten sind die Mahlzeiten der Höhepunkt im Tagesablauf, wenn ihre Menüwünsche aufgenommen werden. Je nach Krankenhaus variiert der Kostformkatalog, doch immer mehr Dienstleister im Krankenhauscatering bemühen sich, ihr Speisenkonzept nach den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ausgewogen und gut verträglich herzustellen.
Die Dienstleistungsgesellschaft Procuratio bietet beispielsweise bis zu 150 Diät-Kostformen, mediterrane Kost, besondere Speisenkonzepte für Geburtsstationen sowie indikationsinduzierte Speisepläne für Rheuma und Herz-Kreislauferkrankungen. Auch ein Getränkekonzept für Patienten gehört zum Angebot, denn der therapeutische Nutzen von oraler Trink- und Zusatznahrung ist in zahlreichen klinischen Studien belegt. Professor Löser führt aus, dass die tägliche Gabe von 250 kcal Trinksupplement alle Komplikationen des Patienten signifikant verringert. „Die therapeutische Effizienz der Ernährung ist höher als jede Medikation“, sagt er. Deshalb fordert er auch aus ökonomischen Gründen, dass „Ernährungsmedizin in Anbetracht ihrer enormen Relevanz endlich fester Bestandteil der Ausbildung von Medizinstudenten und Fachärzten werden muss“.
Anja Behringer