Der Lebensstil der Menschen steht auf dem Prüfstand. Nur wer „gesund“ lebt, darf zur Belohnung länger leben – beispielsweise in einem schmucken Pflegeheim. Unlängst erklärte Professor Rudolf Kaaks vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg in einem Interview, wie groß der Gewinn an Jahren ist, „wenn man die wichtigsten Risikofaktoren zusammennimmt“: „Menschen, die stark rauchen, übergewichtig sind und viel Alkohol trinken, sterben im Schnitt bis zu 17 Jahre früher als Vergleichspersonen, die alle diese Risikofaktoren total vermeiden.“ Ein Blick in seine Originalstudie offenbart, dass speziell fette Kettenraucherinnen, die dauernd besoffen sind und dabei viel Wurst und „rotes“ Fleisch essen, im Vergleich mit normalgewichtigen, wurstlosen und abstinenten Nichtraucherinnen knapp 14 Jahre früher ins Gras beißen. Die von Kaaks versprochenen 17 Jahre gelten für Männer mit gleichen Gewohnheiten. Rein statistisch wird dabei der Löwenanteil dem Rauchen und Saufen zugeschrieben. Stutzig macht die Tatsache, dass die meisten Trinker und Kettenraucher im richtigen Leben ziemlich dürr sind. Woher also nehmen die Forscher die seltene Spezies der schneckerlfetten Trinker, die gleichzeitig den ganzen Tag an der Fluppe hängen? Es handelt sich dabei um ein willkürliches statistisches Konstrukt, um eine sogenannte „worst case“-Statistik: Man muss dabei nur genug Alkohol in die Statistik einfließen lassen und Rauch in die Berechnung hineinblasen, bis die Ergebnisse dramatisch genug sind.
Jedem sein Risiko
Die Methode hat eine gewisse Beliebigkeit. Es hängt von der Auswahl der „Lebensstilfaktoren“ ab, wie groß die statistischen Verluste an Jahren ausfallen. Wer Risikosportarten ausübt, wie Boxen, Drachenfliegen oder barfuß Himalayagipfel erklimmt, dem kann man für jede dieser Aktivitäten ein paar Jährchen abziehen. Wer mit dem Pkw eine riskante Fahrweise pflegt, kann seiner Rentenversicherung je nach Auswahl der Basisdaten 10 Jahre Rente sparen. Wer in den Hafenstädten der Dritten Welt ungeschützten Sex hat, den können wir Pi mal Daumen um weitere 5 Lebensjahre erleichtern. Man darf es mit dieser Art von Risiko-Statistik nicht übertreiben, damit die Menschen, zumindest auf dem Papier, nicht aus Versehen bereits vor ihrer eigenen Geburt verstorben sind. Um das Verwirrspiel abzukürzen, ein paar Daten, die ohne komplizierte statistische Bearbeitung erste Aussagen erlauben: Vergleicht man die Lebenserwartung mit dem Einkommen, so lagen laut einem zutreffenden Bericht der ZEIT „bei 60-jährigen Männern […] zwischen der untersten und der obersten Einkommensklasse ganze 13 Jahren an Lebenserwartung“. Einer anderen Untersuchung ist zu entnehmen, dass der Umstand, ob jemand 1500 oder 4500 Euro verdient, – statistisch – in der Lebensbilanz immerhin sieben Jahre ausmacht. Je höher das Einkommen desto geringer die Existenzsorgen. Angst und Sorgen wirken lebensverkürzend.
Berufsrisiko Dachdecker
Solche Daten sind solider als die statistischen Konstrukte des DKFZ. Ein ähnliches Ergebnis erhält man, wenn man den ausgeübten Beruf mit der Sterblichkeit abgleicht. Der Beruf entscheidet über Einkommen und Risiken. Auch bei den Berufen betragen die Unterschiede je nach Untersuchung bis zu 12 Jahre. Einige Berufe mit viel Bewegung wie Dachdecker oder Waldarbeiter – vulgo körperlicher Arbeit an frischer Luft – haben eine auffällig niedrige Lebenserwartung. Berufe mit sesselwärmenden Aufgaben und hohem Einkommen werden dagegen mit einem langem Leben belohnt. Neben der körperlichen Arbeit spielt natürlich die psychische Belastung eine wichtige Rolle. Auch dürfen die altbekannten Risikofaktoren wie Tabak, Alkohol und Drogen nicht vergessen werden. Diese sollen beispielsweise für die niedrigere Lebenserwartung von Schauspielern und Popmuskern verantwortlich sein. Wenn aber die körperliche Aktivität eines Bauarbeiters oder Fliesenlegers mit einer geringen Lebenserwartung verbunden ist, gibt das Probleme, wenn in Studien der Nutzen von „mehr Bewegung“ betont werden soll. Wie wird dies in den Studien gelöst? Die Bewegung während der Arbeitszeit wird einfach unterschlagen. Es zählt nur die Betätigung in der Freizeit. Da „sitzende Berufe“ eine größere Neigung zum Golfspiel haben als Maurer, ergibt sich zwangsläufig, dass „ausreichend Bewegung an der frischen Luft“ rein statistisch die Lebenserwartung erhöht. De facto heißt das: Wer in genug Geld und Freizeit hat, um entspannt Golf zu spielen, lebt im Schnitt länger. Der Bauarbeiter hängt nach seinem Arbeitstag mit einer Flasche Bier ab. Also wirkt Bier lebensverkürzend!
Es geht (also doch) um die Wurst
Beim „roten“ Fleisch und Wurst, die angeblich beide „lebensverkürzend“ wirken, wird der gleiche Trick bedient: Wer schwer körperlich arbeitet, ist meist kräftiger und isst natürlich auch mehr als jemand, der am Computer Diätpläne grafisch gestaltet. Wer schuftet, braucht weitaus nahrhaftere Kost, er verspeist zwangsläufig mehr Kalorien und damit Zucker, Butter, Wurst, Kartoffeln, Käse oder was auch immer. Und schon passt die Statistik wieder. Seither beißen Holzfäller oder Kanalarbeiter nicht deshalb früher ins Gras, weil sie einen anstrengenden und gefährlichen Arbeitsplatz haben, sondern weil sie statistisch gesehen viel Wurst essen und in ihrer Freizeit nicht joggen. Würden die Maurer, Gastwirte oder Bergarbeiter den „Lebensstil“ pflegen, der uns allen empfohlen wird, würde dies ihre Arbeitsfähigkeit infrage stellen. Dann müssten wohl einige überflüssige Berufsgruppen auf Kanalarbeiter, Mörtelmischer oder Bergmann umschulen, damit wir auch in Zukunft ein menschenwürdiges Leben in einer Zivilisation führen können.
Eine weitere Kolumne finden Sie in unserer aktuellen Ausgabe von CATERING MANAGEMENT.
Foto: privat
(Auszug CATERING MANAGEMENT 11/2014 S. 4, Autor: Udo Pollmer)